Die parlamentarische Demokratie basiert auf dem Vertrauen des Volkes; Vertrauen ohne Transparenz, die erlaubt, zu verfolgen, was politisch geschieht, ist nicht möglich (BVerfGE 40, 296 <327>)

Zugang zu Informationen der Behörden ist ein fundamentales Menschenrecht, das auf nationaler Ebene durch eine umfassende Gesetzgebung gewährleistet sein muss, die auf dem Prinzip der größtmöglichen Offenlegung basiert".
UN, OSZE und OAS Sonderbeauftragte für den Schutz der Meinungsfreiheit 2004



Walter Keim, E-Mail: walter.keim@gmail.com
Torshaugv. 2 C
N-7020 Trondheim, 4. Juli 2011

An
Herrn Winfried Hermann
Minister für Verkehr und Infrastruktur
Baden-Württemberg (MVI)
Postfach 10 34 39
D-70029 Stuttgart

Kopie: Teilnehmer der Schlichtung

Betreff: Intransparenz und Falschspiel der Bahn und des BMVBS bei Stuttgart 21


Sehr geehrter Herr Minister Hermann,

Offenheit, Transparenz, "alle Fakten auf den Tisch" waren Voraussetzungen für die Schlichtung, der sich auch die Bahn anschloss. Das "Ende der Mogelei" (Spiegel online, 11.10.2010) wurde versprochen.

Um herauszufinden, ob das auch stimmt habe ich am 25.10.2010 (Anlage 1) Akteneinsicht gemäß Informationsfreiheitsgesetz (IFG) des Bundes gestellt in:

- Wirtschaftlichkeitsprüfung Stuttgart 21 und Neubaustrecke 2006
- Überprüfung der Wirtschaftlichkeitsprüfung 2007
- "Neubewertung der Nutzen-Kosten-Analyse der Neubaustrecke Wendlingen – Ulm"

Im Widerspruch gegen die Ablehnung vom 11.12.2010 (Anlage 4) wurde die Einsicht im Wesentlichen auf das Datum, das Inhaltsverzeichnis, Gesamtkosten und das Kosten-Nutzen-Verhältnis eingeschränkt.

Trotzdem hat das BMVBS auf Verlangen der Bahn nur folgende Information aus der Zusammenfassung der Überprüfung der Wirtschaftlichkeitsprüfung datiert 19.4.2007 (Anlage 9):
"Unter der Annahme, dass alle eingeplanten Finanzierungsbeiträge zugesagt werden, ergibt sich aus der von uns angepassten Wirtschaftlichkeitsberechnung im weitesten Sinne ein nahezu ausgeglichener Kapitalwert für die BD AG".
Die Verweigerung der Einsicht in die Gesamtkosten und abwegige Behauptung, das sei ein Geschäftsgeheimnis ist ein Affront gegen die Informationsfreiheit nach dem IFG.

Hätte die Freigabe der Gesamtkosten den Bericht im Nachrichtenmagazin Der Spiegel über frisierte Kostenrechnungen (Anlage 11) bestätigt und wurde deshalb zurückgehalten? Wird die 4,5 Milliarder Grenze überschritten?

Schlichtung (Materialien 26.11.2010) nennen als "Basis für die Finanzierungsvereinbarung (vom 02.04.2009) der NBS Wendlingen -Ulm waren Gesamtkosten von 2.025 Mio. EUR mit Kosten-und Planungsstand 2004" (siehe auch  Finanzierungsvereinbarung zum Bahnprojekt Stuttgart–Ulm. Landtag von Baden-Württemberg (Hrsg.): Drucksache 14/4382 vom 22. April 2009). Der aktuelle Stand 2010 ist 2.890 Mio.

Da mit den Mitteln des IFG (Anlage 10) bisher kein Mindestmaß an Einsicht möglich war, habe ich mich an den Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit gewandt (Anlage 6).

Information ist Macht, die sowohl Wähler als Gewählte benötigen. Informationszugang für Wähler und Volksvertreter wird in der zivilisierten Welt als Voraussetzung für Demokratie angesehen. Wo ist die demokratische Legitimation, wenn nicht mal Parlamentarier und andere Entscheidungsträger richtig informiert sind?

Deshalb begrüße ich es, dass die Grünen im Bund beim Bundesverfassungsgericht klagen, um Auskunftsrechte für Parlamentarier durchzusetzen (Anlage 12).

Seit 2001 habe ich vergeblich in Petitionen geschrieben in denen ein IFG für Baden-Württemberg vorgeschlagen wird, z. B. Petition 13/00824, 13/6099 , Anhörung zum Vorschlag und Petition 14/24048. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass das menschenrecht auf Zugang zu Informationen der öffentlichen Verwaltung international als Vorraussetzung für Demokratie angesehen wird. Auch die Grünen in BW haben am 10.3.2008 schon einen Gesetzesvorschlag für win IFG eingebracht siehe Drucksache 14/2468

Deshalb ist es sehr positiv dass der Koalitionsvertrag ein bürgerfreundliches Informationsfreiheitsgesetz für Baden-Württemberg angekündigt (Anlage 13). Damit hat die Geheimniskrämere in BaWü ein Ende. In Europa fehlen Informationsfreiheitsgesetze im wesentlichen nur noch in Weißrussland und 5 CDU/CSU regierten Ländern. Nachdem die wirtschaftlich aufstrebenden BRICS-Staaten Indien 2005, China 2008, Russland 2010 und Brasilien 2011 den Zugang zu Dokumenten der öffentlichen Verwaltung gesetzlich geregelt haben, fehlt weltweit im Wesentlichen nur noch Afrika und der Nahe Osten. Mehr als 4,5 Milliarden Menschen haben Zugang zu Dokumenten der öffentlichen Verwaltung. Zuletzt haben Nigeria (3.7.11) und die Mongolei (17.7.11) Informationsfreiheitsgesetze verabschiedet. Tunesien (Mai 2011) hat ein entsprechendes Dekret verabschiedet. Die vorgeschlagene neue Verfassung Marokkos hat auch eine entsprechende Bestimmung.

Die hier dokumentierte Geheimniskrämerei bezüglich der Gesamtkosten zeigt, dass das Bekenntnis zur Offenheit nicht echt ist. Die Bahn benutzt ihr Wissen als Herrschaftsinstrument zur Manipulation der Parlamente und Öffentlichkeit. Zwar wird das Geld des Steuerzahlers eingefordert, aber die Verpflichtung zur Information der Entscheidungsträger der repräsentativen Demokratie verweigert. Damit tritt Bahnchef Grube in die Fußstapfen von Mehdorn, der bekanntlich die Presse durch Entzug von Reklameeinkünften knebelte.

Mit freundlichen Grüßen
-- 
Walter Keim
Netizen: http://sites.google.com/site/walterkeim/

Anlagen:
  1. 25.10.2010: Antrag beim BMVBS: http://wkeim.bplaced.net/files/101026bmv.htm
  2. 02.11.2010: Bundeskanzleramt weisst auf BMVBS hin
  3. 26.11.2010 (angekommen 3.12.2010):  BMVS antwortet dass die von der DB AG 2006 durchgeführten Wirtschaftlichkeitsberechnung und der 2007 im Auftrag des Bundes durchgeführten Prüfung Betriebsgeheimnissen sind. Bezüglich der Neubewertung 2010 wird auf die Bedarfsplanung vom 11.11.2010 hingewiesen: http://wkeim.bplaced.net/files/101126bmv.pdf
  4. 11.12.2010: Widerspruch gegen Ablehnung der Akteneinsicht mit Kopi an den Informationsfreiheitsbeauftragten (bfdi).
  5. 04.01.2010: Der Informationsfreiheitsbeauftragte des Bundes bittet den BMVBS um Stellungnahme: http://wkeim.bplaced.net/files/1012bmv.htm
  6. 26.01.2011: Informationszugang als Akt zivilgesellschaftlicher Notwehr um ein bisschen Demokratie zu verwirklichen.
  7. 16.02.2011: Der Informationsfreiheitsbeauftragte (bfdi): Das Drittbeteiligungsverfahren mit der Deutschen Bahn AG sowie einem Wirtschaftsprüfer/Gutachter ist nach Auskunft des Ministeriumsderzeit noch nicht abgeschlossen.
  8. 11.04.2011: Sachstandsanfrage bezüglich des Widerspruchs vom 11.12.2010 Akteneinsicht Gutachten Neubaustrecke.
  9. 14.04.2011: BMVBS gibt 2 Sätze der Konklusion des Wirtschaftlichkeitsgutachtens von 2007 frei, lehnt aber alles andere ab, basierend auf den Vorgaben der Bahn vom 23.3.11: http://wkeim.bplaced.net/files/110414bmv.pdf
  10. Zusammenfassung: Akteneinsichtsanträge helfen nicht um ein bisschen Demokratie zu verwirklichen und Licht in das Dunkel von Stuttgart 21 bringen: http://wkeim.bplaced.net/files/if-stuttgart21.htm
  11. 03.07.2011: Der Spiegel: Interne Unterlagen. Bahn soll Stuttgart-21-Kosten frisiert haben (Druckausgabe): http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,772001,00.html
  12. 22.03.2011: www.123recht.net: Grüne klagen auf Offenlegung der Verträge zu "Stuttgart 21" beim Bundesverfassungsgericht
  13. 20.06.2011: Baden-Württemberg: Das Ende der Geheimniskrämerei. http://www.informationsfreiheitsgesetz.net/blog/2011/06/20/baden-wurttemberg-das-ende-der-geheimniskramerei/
Im Internet publiziert:
  1. 03.07.2011: Der Spiegel: Interne Unterlagen. Bahn soll Stuttgart-21-Kosten frisiert haben (Druckausgabe).
  2. 05.07.2011: Stuttgarter Zeitung: Neubaustrecke Wendlingen - Ulm.  Wäre die Kostenexplosion bekannt geworden, wäre das Projekt gestrichen worden.
  3. 05.07.2011: Stuttgarter Zeitung: Neubaustrecke: Bahn hat Kosten für ICE-Trasse geschönt.
  4. 14.07.2011: Frankfurter Rundschau: Landesregierung: Stuttgart 21 kostet über fünf Milliarden Euro.
  5. 15.07.2011: Frankfurter Rundschau: Bundesrechnungshof Prüfer rügen S21-Rechnung: Der Bundesrechnungshof hält die aktuellen Kostenangaben für Stuttgart 21 weiterhin für zu niedrig. Dokumente würden inzwischen beweisen, dass die Bahn hohe Mehrkosten über viele Jahre teilweise sogar mit Vorsatz verschwiegen habe.
  6. 16.07.2011: Frankfurter Rundschau: Die Stuttgart-Lüge.
  7. 30.08.2011: Juristen zu Stuttgart 21: Kostenüberschreitung und arglistige Täuschung. Eine Erläuterung zu den Rechtsfolgen.
  8. 28.04.2011: Transparency begrüßt geplantes Informationsfreiheitsgesetz in Baden-Württemberg
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