Bundesverfassungsgericht in der Kritik
Offener Brief an den Bundesverfassungsgerichtspräsidenten

Es hat sich längst herumgesprochen: Ein Verfassungsbeschwerde bringt in aller Regel nichts!
Wer solch eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht einreicht, hat zumeist eine schreckliche Leidensgeschichte hinter sich (gerade in familienrechtlichen Fällen), dem ist auf einem langwierigen Instanzenweg viel Unrecht widerfahren (
Beispiele)
Nur wenige schaffen es überhaupt bis zur Verfassungsbeschwerde; die meisten Väter, Mütter oder Großeltern bleiben bis dahin längst irgendwo psychisch oder materiell auf der Strecke. Oder sie scheitern an den Formalien, etwa durch Versäumung der vierwöchigen Antragsfrist.
Die wenigen, die trotz aller Hürden der Justiz fristgemäß eine Beschwerde einreichen, klammern sich an dieses Rechtsmittel wie an den letzten Strohhalm, in der Hoffnung, wenigstens vor dem höchsten deutschen Gericht eine Behandlung zu erfahren, wie sie das Gesetz, zuvorderst das Grundgesetz vorsieht. Und werden in den meisten Fällen erneut bitter enttäuscht: Von einem Gericht, das wir als Gralshüter unserer Verfassung begreifen, der Demokratie und der gesellschaftlichen Ethik.

Es hat sich längst herumgesprochen: Wer in Deutschland Justizwillkür erlebt und eine gesetzeskonforme Gerichtsentscheidung sucht, der muß noch eine Instanz höher gehen und sein Recht beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einklagen.

So darf es nicht sein! Schließlich leben wir in einem zivilisierten Land, in dem das "Rechtsstaatsprinzip" gilt und gelten muß. Daher mußte der nachfolgende "Offene Brief" an den Präsidenten des BVerfG formuliert werden.
Wir sind gespannt, was Herr Prof. Dr.jur.habil. Dr.h.c. H.-J. Papier dazu äußern wird.

Dr. Christian Adler

1.März 2004

Herrn o.Prof. Dr. jur. habil. Dr. h.c. H.-J. Papier
-Präsident des Bundesverfassungsgerichts/BVerfG-
Schlossbezirk 3 D.76131 Karlsruhe

Vorab als e-mail und Fax an: poststelle@bundesverfassungsgericht.de; 0721 - 9101382


Sehr geehrter Herr BVerfG-Präsident,
sehr geehrter Herr Professor Papier,

weil wir rechtsstaatlich, bürgerrechtlich und rechtskulturell engagierte Bürger dieses Landes - eines dem Selbstverständnis nach demokratischen und sozialen Bundesstaates - sind, wollen wir Ihnen zu einem zentralen Komplex jeder sozialen und demokratischen Rechts- und Verfassungspraxis, des verfassungsrechtlich garantierten rechtlichen Gehörs und seiner praktischen Mißachtung, einige Fragen in Form eines Offenen Briefes stellen.

Es geht uns nicht um diese oder jene rechtliche Einzelheit. Sondern grundlegend um Anspruch und Praxis von rechtlichem Gehör vor Gericht als Bürger-, Grund- und Menschenrecht.

Nachdem Sie 1992 einen Ruf als Ordinarius für Deutsches und Bayrisches Staats- und Verwaltungsrecht sowie Öffentliches Sozialrecht an der LMU München erhielten und 1991/98 Vorsitzender der Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR, 1994/98 Kommissionsmitglied zum Versorgungsruhens- und Entschädigungsgesetz und seit Februar 1998 Vizepräsident des BVerfG sowie Vorsitzender des 1. Senat wurden - sind Sie, seit April 2002, einstimmig gewählter BVerfG-Präsident.

Damit sind Sie, Herr Papier, dafür verantwortlich, daß es in Deutschland immer noch als rechtens gilt, Verfassungsbeschwerden von Bürger/innen begründungslos abzulehnen - eine seit 1993 legalisierte Praxis, deren Rechtmäßigkeit endlich zur Prüfung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg anstehen sollte.

Seit 1993 nämlich erlaubt § 93 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, Verfassungsbeschwerden begründungslos abzulehnen - eine Praxis Ihres Hauses, die so menschenwürdeverletzend und menschenrechtsfeindlich wie verfassungswidrig ist.

Hätten Sie die Verfassungswidrigkeit des § 93 BVerfGG als Ihre Handlungsgrundlage nicht selbst erkennen müssen ?

In einem Plenumsbeschluss Ihres Hauses Ende April 2003 wurden Bundestag/Bundesrat aufgefordert, dafür zu sorgen, daß die seit Gründung dieses Staates, also nunmehr seit 55 Jahren, anhaltende rechtswidrige Praxis der Verletzung des rechtlichen Gehörs endlich beendet wird: Dieser wichtige Beschluss aller sechzehn Bundesverfassungsrichter/innen vom 30. April 2003, der mit zehn zu sechs Stimmen(mehrheit) zustande kam, verpflichtet ´den Gesetzgeber´, bis zum 31.12.2004 Rechtsschutz bei der Verletzung von Verfahrensgrundsätzen, insbesondere zur Garantie des rechtlichen Gehörs vor Gerichten im Sinne des Artikel 103 [4] des Grundgesetzes, zu schaffen.

Der Leitsatz Ihres Beschlusses vom 30.4.2003 lautet: "Es verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes, wenn eine Verfahrensordnung keine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit für den Fall vorsieht, daß ein Gericht in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt."
BVerfG, 1 PBvU vom 30.4.2003)

  • Wissen Sie, Herr Papier, nicht, daß dies auch auf die von Ihnen praktizierte Verweigerung des rechtlichen Gehörs bei Verfassungsbeschwerden von Bürger/innen, die sich als letzte innerstaatliche Rechtsmöglichkeit an Sie als Verfassungsrichter und Senatsvorsitzenden wenden, zutrifft und daß diese Grund- und Menschenrechtsverletzung/en in Form begründungsloser Ablehnungen in Ihrem Hause seit 1993 massenhaft praktiziert werden?

Und daß Ihr Haus zur weiteren Verfahrensvereinfachung - entgegen dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) - inzwischen sogar schon dazu übergeht, Verfassungsbeschwerden einfach von der BVerfG-Verwaltung bearbeiten zu lassen - so daß nicht einmal mehr der äußerliche Eindruck entstehen kann, daß Verfassungsbeschwerden von Verfassungsrichtern entschieden würden ?

  • Wissen Sie denn nicht, welches Ausmaß diese verfassungswidrige Ablehnungspraxis Ihres Hauses inzwischen angenommen hat?

Würde man nur ´weiche´ Maßstäbe anlegen, dann handelte es sich bei etwa 45.000 Beschwerden in diesem Zehnjahreszeitraum um etwa 10.000 "Fälle", in denen Ihre Verfahren nicht rechtens waren.
Legt man freilich eine ´hartes´ Kriterium an wie das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, 1 B 231.94 [und] 1 C 34.94 vom 9.1.1995, unveröff. Beschluss, zit.6,7) - dann hätte es 1993-2002 etwa 35.000 sich bei Ihnen beschwerende Bürger/innen als Opfer Ihrer das Verfassungsgebot ("Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör") mißachtenden begründungslosen Ablehnungspraxis gegeben - also, seitdem Sie, Herr Papier, dem 1. Senat vorsitzen, etwa 3.500 einzelne Menschenrechtsverletzungen pro Jahr.

Bei den von Ihnen begründungslos abgelehnten Beschwerde-"Fällen" handelt es sich um lebendige Menschen, die, weil sie von Ihnen als "tote Registraturnummern" (Franz Kafka) behandelt wurden, in ihrer Würde als Menschen nachhaltig verletzt sind.

  • Wissen Sie nicht, daß Menschenwürde als ´oberstes Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts´ und zentralnormativer Grundsatz gilt und auch der deutschen Verfassung des Grundgesetzes unterliegt ?

  • Und daß Menschenwürde immer dann verletzt wird, wenn "der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird"? (G. Düring, zit. nach FAZ, 204/3.9. 2003, 33).

  • Wissen Sie denn nicht, daß Bürger/innen, die sich mit Beschwerden an Sie als Verfassungsrichter wenden, nichts anderes als Gerechtigkeit, verstanden als ´den geltenden Rechtsnormen entsprechendes Handeln und Urteilen´ und angemessene Rechtsprechung der mit der Rechtspflege beauftragten Institutionen und Richtern erwarten - und von Ihnen nachhaltig enttäuscht werden ?

  • Wissen Sie wirklich nicht, daß Verfahrenslegitimation und das Recht auf ein faires Verfahren grundlegende rechtskulturelle Errungenschaften der europäischen Zivilisationsentwicklung sind ?

  • Und haben nicht auch Sie, Herr Papier, als Oberster Berufs- und Verfassungsrichter dieses Staates den Richtereid geleistet, in dem es heisst (DRiG § 45): "Ich schwöre, das Richteramt getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen" ?

  • Glauben Sie wirklich, daß Sie und Ihr Haus "nach bestem Wissen und Gewissen ... nur der Wahrheit und Gerechtigkeit dienen", indem Sie Verfassungsbeschwerden grundsätzlich ohne jede Begründung ablehnen ?

  • Und können Sie, Herr Papier, denn die Bedeutung des grundlegenden Hinweises von Hannah Arendt, daß "die Verletzung des Rechts eines einzigen die Verletzung des Rechts aller" ist und daß folglich jede einzelne von Ihnen begründungslos abgelehnte Verfassungsbeschwerde eine Zurückweisung zuviel ist,
    wirklich nicht begreifen ...?

Selbstverständlich können Sie unseren Offenen Brief zum Anlaß nehmen, um Ihre begründungslose Ablehnungspraxis von Verfassungsbeschwerden einzustellen.

Mit verbindlicher Empfehlung und freundlichem Gruss

Dr. Peter Niehenke, Freiburg/Br.
p e t e r@niehenke.de
[Lorettostr. 38; D.79100 Freiburg/Breisgau]

Dipl.-Ing. Walter Keim, M.A., Trondheim
w keim@online.no
[Torshaugv. 2 C, N-7020 Trondheim]

Dr. Edmund Haferbeck, Schwerin
haferbeck @aol.com
[Karl-Marx-Str.16; D.19005 Schwerin]

Thomas Doering, Berlin
thomasdoering @aol.com
[Moränenweg 6; D.13509 Berlin]

Dr. Ulrich Brosa, Amöneburg
brosa-gmbh @t-online.de
[Brücker Tor 4; D.35287 Amöneburg]

Dr. Richard Albrecht, Bad Münstereifel
dr@richard-albrecht.de
[Wiesenhaus; D.53902 Bad Münstereifel]

Dr. Christian Adler, Gilching
100111.215@compuserve.com
[Am Römerstein 19, D.82205 Gilching]

ViSdPrR. Walter Keim, Trondheim; ©by the authors (2004)