Liebe Johanna!
Du hast Dir viele Mühe gemacht mit Deinem Schreiben.
Und Du bist ganz Du geblieben. So soll es wohl auch sein,
Theater spielen wird auf die Dauer auch zu anstrengend.
Wobei zudem die Schminke im ungeeignetsten Augenblick
abblättert.
Ja, Regina war auf Urlaub. Sie war auch in Gmünd und hatte
keine Zeit, mich’ zu besuchen. manchmal färbt der Gräfinen-
umgang auf den Alltag ab. Zudem hat sie ein schlechtes
Gewissen, Ich halte es nämlich mit Albert Schweitzer, der
meint, Jesus habe nur ein Gebot hinterlassen, das der Liebe.
Und Regina muß dauernd bei Reichen sein, die doch nicht in
den Himmel kommen können. Diese Heilandslehre wird für
diese Kreise unangenehm. Daher huldigen sie dem Spiritismus,
Reginas Gräfin hat sogar drei spiritistische Bücher geschrieben,
Das Dritte mit Fragen und Antworten. Regina schickte
mir ein Exemplar mit eigenhändiger Widmung der Gräfin. Wenn
Du Dich dafür interessierst, gebe ich es Dir. Ich glaube
nicht dran. So macht denn jeder seine eigene Religion, ich
meine Weltanschauung.
Du meinst, wir hätten uns seit der Schulzeit nicht mehr
gesehen. Das stimmt nur zum Teil. Ich sah Dich einmal
auf dem Bahnsteig in Schramberg, hatte aber keinen Schneid,
Dich anzusprechen. Nun, d&es wird nicht wieder geschehen.
Ich habe vor, zum 60-er-fFest nach Schramberg zu kommen.
Leider habe ich die Anschriften der Altersgenossen zum 5o-er
Fest vernichtet vielleicht kannst Du mir die Anschrift
des Vorsitzenden mitteilen.
Von unsern Altersgenossen traf ich seit 1919 mehrere. Außer
Mutschler und Rieger haben sich alle geändert. Riegers Karl
traf ich in den dreißiger Jahren einige male in Stuttgart.
Ich war dort Soldat. Als ich 1935 in Ostpreussen bei Rositten
auf einer Radtour war, hörte ich von Mackle. Er war aber
in jenen Tagen gerade abwesend. Er muß damals irgend etwas
mit Luftschutz zu tun gehabt haben.
Es ist so, wie Du sagst, ein jeder bekommt sein Päckchen
(ab und zu auch ein handfestes Paket) aufgebürdet und muss
es mit mehr oder weniger Würde bis zum erlösenden Ende mit-
schleppen, Auch kann man sich seine Eltern nicht aussuchen.
Dann bist Du ja Haushaltsvorstand und verantwortlich für
Mutter und Schwester. Luise war auch schon als Kind nicht
ganz gesund... Mir tat sie immer leid, schon wegen ihren
Augen. Zum Glück hat Dir die Natur eine gehörige Portion
Energie mitgegeben. Eigentlich hättest Du ein Junge sein
sollen.
45 kg mit einem weißgrauen Kopf. Ich habe es erst zu
grauen Schläfen gebracht. hiein Gewicht ist seit 35 Jahren
gleich, immer zwischen 65 und 70 kg. Fettnacken und Schmer-
bauch drohen mir zum Glück nicht. Als den Emaille-Schweitzer
einmal in der”Post” traf, meinte er, nun bekomme er halt
den tradionellen Altersspeck. Wahrscheinlich betrieb er
keinen Ausgleichssport.
Reichenbach: (Kolonialwaren) traf ich einmal in Gmünd,
als er seine Teigwaren anbot. Er hat eine sehr tüchtige Frau
bekommen.
Ich bin nachgerade sehr. neugierig auf.das, 6o-er Fest.
"Wie es'mir ging”?- Nun, ich wollte landwirtschaftlicher Beamter
werden. 1921 schrieb mir meine‘ Mutter, sie könne nun nichts
mehr für mich tun es sei kein Geld zum Studieren da. Dann
holten sie mich in die Uhrenfabrik Junghans. Nach einem Jahr
rückte ich aus zur Reichswehr.. Von 1923 .bis 1335. war ich
bei.berittenen Truppen. Ich.hatte es. z.T sehr gut. Dann
wurde ich Zahlmeister. 1941 wurde ich- ‚pensioniert, weil ich
mich weigerte, die unberechtigten Forderungen von Offizieren
ordnungsmäßig zu verrechnen. .Meinen Bataillonskommandeur
zeigte.ich wegen ‚Betrugs an.. Nun,ich, war halt der schwächere.
Ich mußte wohl so sein, 1943 kam der Einsatz: Zunächst wurde
ich Imkergehilfe, dann Buchhalter und schliesslich Hilfsschlosser.
Nach dem Zusammenbruch..arbeitete ich wo es.etwas zum Essen
gab. Erntehelfer, Torfstecher, Transportarteiter, Gärtner-
gehilfe, Zeitungsträger, Steinbrucharbeiter, Holzhauer und
schließlich Kleinlandwirt. Meine Frau hatte eine kleine Land-
wirtschaft. Aber bei ‚der Erbschaftsauseinandersetzung stand sie zu
ihrem Bruder. 1952 bekamen wir wieder Pension, ich wurde
wieder Oberzahlmeister im Ruhestand. ‚Ich rückte meiner Frau
aus’ und nahm meine beidenKinder mit! "Als meine Holde krank
wurde konnte ich den getrennten Haushalt nicht.mehr durch-
stehen. Dann kauften wir in altes Bauernhaus. Die zum Umbau
notwendigen Gelder verdiene ich als Bauarbeiter (2,18 DM
Stundenlohn); Mauern‚gipsen und alle andern Arbeiten kann
ich nun selbst machen- -400,-- DM Pension und 400;-- DM Lohn
reichen ganz schön" Endziel ist ein kleines neues Gartenhaus
a:f meinem 27 ar großen Grundstück. Ob ich es schaffe, weiß
ich.noch nicht.
So ist mein Leben. Mein,Sohn Walter ist 10 Jahre, die
Tochter Dorothea 4. Da ich’alles Geld in den Bäu stecke,
habe ich keine Mittel für:'Kleidung. So. bleibe ich hübsch für
mich,, da die Leute-(auch meine engsten Verwandten) die Ansicht
vertreten’'"Kleider machen Leute": Doch bin ich glücklich und
zufrieden. Haselbach liegt eingeschlossen’ von Bergen. Lieber
.wäre.mir die Berglage.
Also Johanna lasse einmal wieder von Dir hören. Eine
Karte genügt. Ich habe Zeit und Lust zum Schreiben. Du
brauchst mir keine ausführliche Antwort zukommen lassen. Es
kann sein‚ daß.ich‚nach Baden komme , dann will ich Dich auf-
suchen.
Ich wünsche Dir weiterhin die nötige Spannkraft für Deinen
gewiß nicht.leichten Beruf und grüße Dich recht herzlich
Dein Schramberger Altersgenosse
Alexander Keim
31.8.58